Die Tränen des Kamels

Einander zu sehen, einander zu erkennen, mehr noch: einander an-zu-erkennen zählt zu den Grundprinzipien einer religiösen Haltung. Darin spiegelt sich das Anerkanntwerden durch Gott. Dem Erkennen jedoch gehen das Sehen und das Wahrnehmen voraus – und daran scheitert der Händler namens Halim. Selbst als sein Kamel vor Erschöpfung in Tränen ausbricht, bleibt Halim auf dessen Nutzen konzentriert: „Je langsamer du läufst … desto länger dauert es, bis du Wasser bekommst.“ Linda Wolfsgruber nimmt fast alle Farbe aus der Illustration zu dieser Szene. Sie legt braune Druckschichten übereinander, färbt selbst das Grün des Hintergrundes braun ein. Halim und sein Kamel zeichnen sich wie Schemen davor ab. Allein deren deutliche Distanz zueinander zeigt die Kälte, mit der der Händler Halim auf das wortwörtlich überhitzte Kamel trifft. Wenig später umgeben das Kamel in den warmen, über die Landschaft der Wüste hingebreiteten Bildern nur noch die dunklen Flecken einer kalten Nacht. Wie auch in den farbigeren, mit starken Buntstifteffekten gefertigten Illustrationen hebt das Kamel sich kantig ab und fügt sich dennoch stilistisch in das jeweils gezeigte Umfeld. In jenes von Medina, zum Beispiel, das sich wie eine Trutzburg aus der Wüste erhebt. Hier soll der Prophet leben. Der kanadische Autor Griffin Ondaatje (er ist der Sohn von Michael Ondaatje) lässt sich von einer der Hadithe inspirieren, von einer jener Überlieferungen über die Worte und Taten des Propheten, die integrativer Bestandteil der islamischen Glaubenslehre sind. Dieser Inspiration folgend erzählt er frei von der heilsamen Begegnung mit dem Propheten, die dem Kamel widerfährt. Es ist der Prophet, der dem Händler die Tränen des Kamels in die Seele pflanzt und damit dessen Augen öffnet. Der islamischen Tradition entsprechend wird der Prophet dabei nicht ins Bild gesetzt; vielmehr folgt Linda Wolfsgruber den Abdrücken seines Wirkens, setzt helle Impulse dort, wo er zur Zuflucht des Kamels wird, dessen Präsenz den Händler plötzlich in wundersamer Weise umgibt. Wenn Kamel und Händler nun in neuer Gemeinsamkeit voranschreiten, bricht aus den Wolken fast verborgen jener weiße Schimmer, der illustratorisch auf die All-Präsenz des Propheten verweist – und den Bogen zu allen Glaubensüberzeugungen schlägt, die das Mitfühlen als Grundlage menschlichen Handelns erkennen. FOLDER ÖKJG-Preis 2015: Inspiriert von einer Überlieferung aus der islamischen Glaubenslehre erzählt Griffin Ondaatje in klarer Sprache von einem Kamel, das von seinem hartherzigen Herrn bis zur Erschöpfung vorangetrieben wird. Bis beide auf ihre je eigene Weise vom Propheten berührt werden. Linda Wolfsgruber findet für die universal gültige Geschichte über Mitgefühl leuchtende Bilder: Vor facettenreichen Wüstenlandschaften zeichnen sich Silhouetten ab, raffinierte Details zeigen die Lichter von Medina, die Tränen des Kamels und schließlich das Wirken des Trostes